WordPress wollte mit Full Site Editing die Art verändern, wie Websites entstehen. Alles im Editor gestalten, kein Code, keine Grenzen. Drei Jahre später zeigt sich ein anderes Bild. Laut HTTP Archive lag die Nutzung des neuen Site Editors im November 2024 bei nur 0,38 Prozent aller Websites. Zum Vergleich: Elementor, der meistgenutzte Page Builder, kommt auf über 8 Prozent. Das heißt: Kaum jemand arbeitet mit FSE, obwohl es seit 2022 Teil des WordPress-Kerns ist.
Wie beim Saftpressen mit Juicero: technisch brillant, aber praktisch überflüssig. Eine Idee, die auf dem Papier begeistert, in der Realität aber niemand braucht. Als WordPress Agentur erleben wir täglich, warum Full Site Editing an der Praxis vorbeigeht und was das für Unternehmen bedeutet, die auf WordPress setzen.
Was Full Site Editing eigentlich sein wollte
Full Site Editing, kurz FSE, sollte das klassische WordPress-Theme ablösen. Die Idee war einfach: Alles, was bisher nur über Code oder komplexe Page Builder möglich war, sollte sich direkt im Editor gestalten lassen. Header, Footer, Templates und Layouts sollten genauso zugänglich werden wie Texte und Bilder. So sollten Redakteure ganze Websites aufbauen können, ohne für jede Änderung eine Agentur oder einen Entwickler zu brauchen.
Die technische Grundlage dafür ist der Gutenberg-Editor, der seit 2018 Teil von WordPress ist. Mit ihm kam ein neues Prinzip in das System. Inhalte werden nicht mehr als zusammenhängender Text gespeichert, sondern als klar strukturierte, wiederverwendbare Blöcke. Full Site Editing überträgt dieses Prinzip auf das gesamte Design und soll damit alle Ebenen einer Website vereinheitlichen.
FSE sollte mehrere Probleme lösen, die WordPress seit Jahren begleiten. Erstens die Abhängigkeit von Page Buildern, die mit eigenen Strukturen und Shortcodes arbeiten und Websites auf lange Sicht schwer wartbar machen. Zweitens die Trennung zwischen Inhalt und Design, die in klassischen Themes oft rigide und unflexibel war. Drittens die mangelnde Konsistenz, wenn verschiedene Tools im Einsatz waren und jede Layoutänderung ein Risiko bedeutete.
Das Design-Konzept hinter Gutenberg und FSE baut auf dem Gedanken des Intrinsic Web Design von Jen Simmons auf. Layouts sollen sich automatisch an verfügbare Flächen anpassen, ohne feste Breakpoints oder Media Queries. Das klingt nach der logischen Weiterentwicklung des Responsive Designs, doch in der Praxis blieb die Umsetzung weit hinter diesem Anspruch zurück.
Die Idee von FSE war, WordPress einfacher, moderner und einheitlicher zu machen. Doch mit jedem neuen Freiheitsgrad wurde das System komplizierter. Was als Vereinfachung gedacht war, hat ein neues Maß an Komplexität geschaffen, das die meisten Anwender eher überfordert als entlastet.
Was Juicero war – und warum der Vergleich passt
Juicero war ein Startup aus dem Silicon Valley, das 2013 mit dem Anspruch antrat, das Saftpressen neu zu erfinden. Das Unternehmen entwickelte eine vernetzte Maschine, die exklusiv hergestellte Saftbeutel auspresste. Das Gerät kostete 699 Dollar, später 399, und funktionierte nur mit firmeneigenen Beuteln, die im Abo bestellt werden mussten. Die Idee klang nach der Zukunft: gesunde Ernährung per App, perfekt dosiert, mit automatischer Erkennung des Produktionsdatums und eingebauten Sensoren.
2017 zeigte ein Bericht von Bloomberg, wie absurd diese Konstruktion in der Praxis war. Die teuren Beutel ließen sich auch einfach per Hand ausdrücken – mit identischem Ergebnis, ganz ohne Technik. Das System war technisch beeindruckend, aber es löste kein reales Problem. Juicero wurde zum Symbol für die Übertechnisierung der Start-up-Welt. Eine präzise gebaute Maschine, die in der Realität überflüssig war. Oder wie es der Guardian formulierte: ein Paradebeispiel dafür, wie Silicon Valley Probleme löst, die niemand hat.
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Mehr InformationenFull Site Editing steht heute an einem ähnlichen Punkt. Auch hier ist die Technik brillant, aber die Anwendung schwach. Die Core-Entwicklung von WordPress hat ein System geschaffen, das theoretisch alles kann – aber praktisch kaum jemand nutzt. Laut den Daten des HTTP Archive vom November 2024 liegt die Nutzung des Site Editors bei nur 0,38 Prozent aller Websites, während Page Builder wie Elementor bei über acht Prozent liegen. Die Idee, ein flexibles, universelles Designtool im Core zu schaffen, wurde Realität. Doch genau wie Juicero beweist auch FSE: Wenn eine Lösung mehr Komplexität erzeugt, als sie beseitigt, ist sie kein Fortschritt, sondern ein Umweg.
Wo Idee und Realität auseinanderklaffen
Full Site Editing wollte WordPress vereinfachen und gleichzeitig professionalisieren. In der Praxis ist das Gegenteil passiert. Was als Lösung für Redakteure gedacht war, erfordert heute mehr technisches Verständnis als je zuvor. Der Editor ist komplex, die Struktur verschachtelt, und viele grundlegende Designaufgaben lassen sich ohne zusätzliches CSS oder Plugins nicht umsetzen.
Ein zentrales Beispiel ist das Thema Responsive Design. Obwohl WordPress mit FSE ein modernes System verspricht, fehlen bis heute einfache Möglichkeiten, Layouts für verschiedene Bildschirmgrößen anzupassen. Es gibt keine Breakpoint-Steuerung, keine mobilen Anpassungen und keine flexiblen Responsive Controls im Core. Stattdessen müssen Nutzer eigene Styles schreiben oder externe Erweiterungen installieren – ein klarer Widerspruch zum Ziel, Design ohne Code zu ermöglichen.
Selbst die WordPress Leadership hat das Problem erkannt. Im State of the Word 2024 kündigte Matt Mullenweg an, dass Responsive Controls ein Schwerpunkt der kommenden Entwicklungsphasen werden sollen. Doch ein Jahr später ist davon in der Praxis wenig zu sehen. Mit WordPress 6.9 erhalten wir gerade einmal die Möglichkeit, Formularfelder über theme.json zu stylen – ein Schritt in die richtige Richtung, aber weit entfernt von echter Layout-Steuerung.
Auch die Benutzerführung bleibt ein Problem. Der Site Editor verwirrt durch seine verschachtelte Navigation zwischen Templates, Template Parts und Global Styles. Viele Anwender verlieren schnell den Überblick, welche Änderung sich wo auswirkt. Laut der offiziellen WordPress-Umfrage 2023 empfinden nur 45 Prozent der Befragten den Editor als ausreichend für ihre Bedürfnisse. Zufriedenheit mit der Benutzerfreundlichkeit von WordPress insgesamt ist im gleichen Zeitraum deutlich gesunken.
Hinzu kommt fehlende Stabilität. Funktionen ändern sich mit fast jedem Core-Update, und viele Blöcke verhalten sich je nach Theme oder Version unterschiedlich. Das macht FSE für Agenturen schwer planbar. Kunden können unbeabsichtigt Layouts zerstören, und Entwickler müssen nach jedem Update prüfen, ob ihre Anpassungen noch funktionieren. Die Idee einer konsistenten, wartbaren Plattform wird so zum beweglichen Ziel.
In der Realität ist FSE ein Werkzeug mit Potenzial, aber ohne Fokus. Es versucht, alles zu können, und verliert dabei seine Stärke: Einfachheit. Während die Core-Entwicklung weiter an der Vision arbeitet, zeigen die Zahlen klar, dass der Markt anders reagiert. Fast niemand nutzt FSE produktiv. Der Versuch, alle Bedürfnisse gleichzeitig zu erfüllen, hat ein System geschaffen, das für niemanden richtig passt.
Wie wir als Agentur damit umgehen
Als WordPress Agentur arbeiten wir seit Jahren mit dem Block Editor und kennen seine Stärken genau. Wir waren schon 2018 Teil der frühen Gutenberg Phase, haben eigene Blöcke entwickelt und an der Weiterentwicklung mitgewirkt. Über unsere Arbeit mit dem Münchner Games-Studio Mimimi Games berichtete damals auch WP Tavern. Für uns steht fest: Der Block Editor ist das beste Content Werkzeug, das WordPress je hatte. Inhalte lassen sich modular, klar strukturiert und visuell nachvollziehbar pflegen. Das ist ein echter Fortschritt.
Doch sobald es um Design und Layout geht, kippt das Bild. Full Site Editing verspricht Gestaltungsfreiheit, erzeugt aber Chaos. Kunden wünschen sich Kontrolle, aber keine Verantwortung für technische Details. Ein zu offenes System bedeutet, dass Redakteure versehentlich Layouts zerstören oder Styles überschreiben können. Was als Empowerment gedacht war, wird zum Risiko für die Konsistenz einer Website.
Wir haben daraus Konsequenzen gezogen. In unseren Projekten setzen wir auf hybride Themes, eine Kombination aus klassischer Theme Struktur und blockbasierten Inhalten. So bleibt das System wartbar und Redakteure behalten klare Grenzen. FSE Funktionen nutzen wir gezielt dort, wo sie echten Mehrwert bringen, etwa bei flexiblen Inhaltsbereichen oder Landingpages, nicht im gesamten Designsystem. Auf unserem Blog erklären wir, welche WordPress Themes wir nutzen und warum diese Balance zwischen Flexibilität und Stabilität entscheidend ist.
Unser Ziel bleibt das gleiche wie bei jeder technischen Entscheidung: Websites entwickeln, die zuverlässig funktionieren. Nicht jede neue Funktion ist automatisch ein Fortschritt. Solange FSE keine stabile, vorhersehbare Basis bietet, bleibt es für uns ein Experiment. Wir beobachten die Entwicklung weiter, testen neue Features und integrieren sie, sobald sie produktionsreif sind. Doch bis dahin setzen wir auf Lösungen, die klar, nachvollziehbar und robust sind, im Sinne unserer Kunden.


